Remote First: Flexibles Arbeiten als Geschäftsstrategie
Als Dozentin an der Hochschule für Wirtschaft in Zürich HWZ, durfte ich (Karin) mit einem Fachartikel im Yea(h)rbook 2018 beitragen. Obwohl ich an der HWZ im CAS Mobile Business and Ecosystems «Mobile Web Technology» unterrichte, wollte ich das Yeahrbook mit meinen Gedanken zum Thema «Flexibles Arbeiten» bestücken.
Nebst meinem Artikel greift das Buch topaktuelle Themen der Digitalisierung auf. Von Blockchain of Things, über Branded Entertainment und Growth Hacking bis hin zu Private Banking 4.0. Es kann als E-Book oder Print Version auf der Website der HWZ bestellt werden. Für meinen Fachartikel, einfach weiterlesen.
Das Büro als Auslaufmodell
Die Zeit in der ein “Arbeitsplatz” das war, was der Arbeitgeber seinen Beschäftigten zur Verfügung stellte, weil Hardware und Kommunikationsmittel wie Telefon und Besprechungsraum an einen festen Ort “das Büro” gebunden waren, ist längst vorbei. Das klassische Büro wird zum Auslaufmodell. Um der Zukunft gerecht zu werden, müssen Unternehmen heutzutage umdenken und ihre Strukturen umgestalten. Das Arbeiten in Cafés, Co-Working Spaces oder einfach im Home-Office wird immer mehr zur Realität. Firmen sind gezwungen darauf zu reagieren und sich zu verändern.
Ausgefallene Arbeitsplätze, von einer Gondel als Sitzungsraum bis hin zu Rutschbahnen, um die Stockwerke zu wechseln; das ist der heutige Trend in der IT-Branche, um als Firma möglichst attraktiv für gutes Personal zu sein. Arbeitgeber wie Google, Facebook, Airbnb und GitHub im Silicon Valley leben es uns schon seit mehreren Jahren vor. Gratis Mittagessen im Büro und weitere Benefits ziehen gute Mitarbeiter an und halten diese dann auch möglichst lange im Büro, sprich bei der Arbeit. Auch in der Schweiz sehen wir diesen Trend. Web Agenturen von klein bis gross richten ihre Büroräumlichkeiten möglichst “hip” ein und bieten ihren Mitarbeitern somit eine ideale Arbeitsatmosphäre. Man soll sich wie daheim fühlen.
Mir gefällt die Idee, von einem schönen Arbeitsplatz und einer guten Arbeitskultur, aber muss es denn unbedingt an einen Ort gebunden sein?
Zeitverlust: das Pendeln
Tag ein, Tag aus fahren tausende von Menschen zu ihren Arbeitsstätten, um dann abends wieder nach Hause zu fahren. Und alle etwa zur selben Tageszeit. Zu den Stosszeiten wird der Platz in den öffentlichen Verkehrsmitteln sowie auf den Strassen regelrecht ungemütlich.
Arbeitest du schon oder pendelst du noch?
Im Jahr 2016 haben 9 von 10 Erwerbstätigen in der Schweiz ihr Wohngebäude verlassen, um ihren Arbeitsplatz aufzusuchen. Dies entspricht rund 3,9 Millionen Menschen, die pendeln. Pendeln ist zeitintensiv und ökologisch fragwürdig.
Arbeitspendler/innen (1) 2016
Anzahl Arbeitspendler / innen | 3,9 Mio. |
davon zwischen verschiedenen Gemeinden | 71% |
Mittlere Länge des Arbeitswegs (ein Hinweg) | 14,8 km |
Veränderung seit 2010 | +7% |
Mittlerer Zeitbedarf für den Arbeitsweg (ein Hinweg) | 30,3 Min. |
Eingesetzte Verkehrsmittel (2) | |
Auto | 52% |
Eisenbahn | 17% |
1) Erwerbstätige ab 15 Jahren, die einen fixen Arbeitsort ausserhalb ihres Wohngebäudes haben
2) Anteil der Pendler/innen, welche ein bestimmtes Verkehrsmittel als Hauptverkehrsmittel für den Arbeitsweg einsetzen.
Quelle: BFS – Pendlermobilität (PEND)
Pendeln ist zeitintensiv und ökologisch fragwürdig.
Wieso bringen wir die Arbeit nicht einfach zu den Mitarbeitern und nicht die Mitarbeiter zur Arbeit?
Effizienz: der Arbeitsplatz
Meetings und Manager sind die wichtigsten Gründe dafür, dass die Arbeit nicht im Büro erledigt wird. Je weiter weg der Mitarbeiter von Meetings und Managern ist, desto mehr Arbeit wird geleistet. Effizientes Arbeiten passiert nicht am Arbeitsplatz.
Hast du schon Feierabend? Wer hat diesen Spruch nicht selber schon gehört oder sogar selber ausgeteilt, wenn ein/e Arbeitskollege/In etwas früher das Büro verlässt. Ist es denn so, dass nur wenn man am Bürotisch sitzt, gearbeitet wird? Kommen die kreativsten Ideen denn nicht eher unter der Dusche, beim Joggen, oder beim Wäsche zusammenlegen? In der heutigen Zeit, in der sich die Menschen sehr mit ihrer Arbeit identifizieren, sollte man als Manager genügend Vertrauen schenken und den Mitarbeitern den nötigen Freiraum bieten, damit sie sich entsprechend entfalten können. Denn die Arbeit wird auch erledigt, wenn die Mitarbeiter/innen nicht vor Ort sind, ja allenfalls sogar besser.
Remote First
Das Büro ist nicht nötig
Viele Schweizer Firmen wie die SBB oder auch die Swisscom haben bereits ihre Büroräumlichkeiten so umgestellt, dass nicht mehr jeder Mitarbeiter den Arbeitsplatz sein Eigen nennen kann. Der Platz in den Bürogebäuden wird knapp und die effektiven Büroplätze rar, deshalb gibt es immer mehr mobile Arbeitsplätze. Mit der heutigen Technologie und Kommunikationsmitteln kann praktisch jeder von überall aus arbeiten, wo es Internetzugang gibt.
In der Regel schlägt aber das ortsunabhängige Arbeiten (folgend Remote genannt) fehl, weil es einen Kern von Mitarbeitern im Büro gibt, die nicht gut mit Remote-Mitarbeitern interagieren, oder weil Manager nicht mit Personen umgehen können, die sie nicht sehen können. Firmen, welche nach der Grundstruktur “Unternehmen mit Büroräumen” funktionieren und neu das Home-Office erlauben, sind meist in ihren alten Strukturen gefangen. Mitarbeiter vor Ort besprechen verbal wichtige Arbeitsschritte miteinander und vergessen, diese schriftlich festzuhalten und schliessen somit automatisch die Remote-Mitarbeitern von wichtigen oder auch unwichtigen Details aus. Diese wiederum fühlen sich ausgeschlossen und isoliert, werden eventuell sogar unproduktiv.
Wenn man jedoch sein Unternehmen nach dem Prinzip “Remote-First” lebt, und die Strukturen davon ausgehend gestaltet, bin ich davon überzeugt, dass die Kommunikation für alle Mitarbeiter wie auch Kunden effizienter wird. Das Unternehmen ist aber auch gewissen Herausforderungen gestellt und sollte sich bezüglich den Regeln für die Situation Gedanken machen.
Kommunikation: zentral halten
In einer typischen Büroumgebung ist es einfach, zum Schreibtisch eines Team-Kollegen oder -Kollegin zu gehen, um eine Frage zu stellen oder sich über ein gemeinsames Thema auszutauschen. Wenn man jedoch sein Team nicht jeden Tag physisch antrifft, stellt die Kommunikation einige Herausforderungen dar. Für die gemeinsame Arbeit ist es von Vorteil, dass man den Mitarbeitern die nötigen Werkzeuge zur Verfügung stellt, damit Informationen immer zentral zugänglich sind. Software für Projektmanagement und Instant-Messaging durch Chat-Tools sollten bereitgestellt werden, aber auch das Zwischenmenschliche sollte nicht zu kurz kommen. Gespräche die normalerweise natürlich entstehen, müssen in einem Remote-Team entsprechend organisiert werden.
Für die Kommunikation mit den Kunden gelten eigentlich dieselben Regeln wie für die Mitarbeiter. Im besten Fall sammelt man jegliche Kommunikation und Informationen über die gemeinsame Arbeit entsprechenden Tools wie zum Beispiel einer Projektmanagement-Tool (oder eine Software nach Wahl die sich am besten für die Zusammenarbeit eignet), indem man E-Mails und sonstige Kommentare an diese Werkzeuge weiter leitet.
Zeitzonen: Risiken und Chancen
Durch die neuen Arbeitsmöglichkeiten werden allenfalls Beschäftigte rekrutiert, die in einem anderen Land leben oder die bestehenden Mitarbeiter kommen auf den Geschmack aus einem anderen Land zu arbeiten. Das bedeutet für das Unternehmen, dass das Team in verschiedenen Zeitzonen arbeiten kann. Asynchrones Arbeiten kann für das Unternehmen sehr wertvoll sein, denn plötzlich hat man nicht nur 8 Stunden sondern bis zu 24 Stunden Betrieb. Gut eingesetzte Ressourcen können das Unternehmen sehr effizient machen. Dies kann aber wiederum auch zu Ineffizienz führen; asynchrone Kommunikation kann zum Beispiel auch zu Wartezeiten führen, bis ein Teammitglied eine Antwort erhält. Trotz zentraler Ablage der Informationen können solche Echtzeit-Fragen nicht aus dem Weg geschaffen werden. Um solche Lücken zu überbrücken und vor allem auch um die Unternehmenskultur möglichst gut zusammenzuhalten, braucht es einen gewissen Zeitblock, innerhalb welchem miteinander zur selben Zeit gearbeitet wird. Aus meiner Erfahrung ist es vorteilhaft, wenn das Team eine Überschneidung von etwa 4 Stunden pro Tag zur Verfügung hat. Somit können Informationen in Echtzeit abgeholt und verteilt werden. Auch das Planen von Besprechungen (Videokonferenzen) ist somit einfacher.
Face-Time: Raum für informelle Gespräche
Natürliche Gespräche “Small-Talks” die gewöhnlich im Flur oder an der Kaffeemaschine passieren, gibt es bei Remote-Teams nicht. Ein Remote-Team begegnet sich nicht ungeplant und spricht dann über das Erlebte am Wochenende. Meist kommuniziert ein Remote-Team hauptsächlich über die Arbeit, da die Kommunikation im Kontext der Arbeit und in den entsprechenden Online-Tools stattfindet. Solche Gespräche sind jedoch sehr wichtig, vor allem um das Zwischenmenschliche zu stärken. Deshalb sollte man den Mitarbeitern Platz für solche Interaktionen bieten, entweder in Form von regelmässigen Team-Meetings (Videokonferenzen bei welchen man sich sehen kann) oder sogar “1:1 Gespräche” bei denen sich zwei Mitarbeiter miteinander austauschen können. Somit schafft man Raum für Gespräche privater sowie geschäftlicher Natur oder einfach, um über ein Thema zu philosophieren. Auch Firmenausflüge oder Zusammenkünfte, bei welchen Mitarbeiter physisch an einem Ort zusammen arbeiten, sind wichtige Faktoren, um den Zusammenhalt zu stärken. Je nach Grösse des Teams ist es nicht zwingend nötig, dass alle am selben Projekt arbeiten, denn nur schon das beieinander sein reicht aus. Aus Erfahrung sollte man bei einem reinen Remote-Team mindestens 2-4 Mal im Jahr zusammenkommen und dabei jeweils gleich ein paar Tage zusammen verbringen. Auch dedizierte Chats können Platz für solche informelle Gespräche bieten. Zum Beispiel kann man Gruppen-Chats anbieten, in denen sich Mitarbeiter untereinander Links sehenswerter TV-Serien, Artikel, usw. teilen können. Diese Chats bieten den nötigen Raum, um Informationen ausserhalb von Projekten oder der Arbeit zu schaffen.
Balance: Arbeit und Leben
Mit der Anwesenheit an dem klassischen Arbeitsplatz war früher gleichzeitig die Arbeitszeit festgelegt. Heute ist man “Always on” und gewillt, seine Arbeit unterwegs zu erledigen. Die Arbeit und Freizeit vermischt sich. Was positive wie auch negative Auswirkungen haben kann. Durch das Remote-Arbeiten können Aufgaben tagsüber wie z.B. Wäschewaschen oder Amtsgänge, welche an herkömmliche Öffnungszeiten gebunden sind, einfacher erledigt werden. Häufig passiert es aber auch, dass die Mitarbeiter – sogar wenn sie krank sind – erreichbar bleiben und sich dadurch nicht genügend erholen. Solche Ausprägungen sehen wir heutzutage generell in unserer modernen Gesellschaft. Als Unternehmen kann und sollte man seine Mitarbeiter dazu sensibilisieren, Pausen zu machen. Häufig hilft es, wenn Mitarbeiter eine Struktur vorgelebt bekommen, damit eine gewisse Routine erfolgt, denn jeder Mensch braucht Routine. Der Eine braucht etwas mehr der Andere etwas weniger. Ich selbst gehöre sicherlich zu denjenigen die weniger Routine bevorzugen, jedoch merke auch ich, dass ein strukturierter Tagesablauf gut tut. Solange ich diesen frei gestalten kann.
Unternehmen: remote only
Remote-Arbeiten ist nicht für jedermann, deshalb ist es für Unternehmen ohne Büroräumlichkeiten wichtig, dass die richtigen Mitarbeiter eingestellt werden. Jene, die Selbstdisziplin kennen und sich selber organisieren können. Andere sind möglicherweise in einem reinen Remote-Team fehl am Platz oder man sollte sie zumindest speziell begleiten. Unternehmen, die Büroräumlichkeiten zur Verfügung stellen, sollten den Mitarbeitern die Wahl lassen, wo gearbeitet wird.
Grössere Firmen wie Auttomatic, die Firma hinter WordPress.com oder Bascamp, die Firma die von einer Agentur 37Signals zur Produktfirma geworden ist, zeigen unter anderem vor, dass das Remote-Arbeiten ohne Büroräumlichkeiten auch mit über 100 Mitarbeiter funktioniert. Über beide Unternehmen und deren Prozesse gibt es Bücher, in denen der Remote-Alltag ausführlich beschrieben wird. Zum Beispiel hat Basecamp nach ihrem erfolgreichen Buch Rework, das Buch Remote geschrieben, worin sie wertvolle Tipps vergeben, in denen auch ich mich und meine Firma wieder gefunden habe. Der amerikanische Autor Scott Berkun, der ein Jahr lang ein junges, innovatives Team bei Auttomatic geleitet hat, hat all seine Erfahrungen in seinem Buch Year without Pants “Mein Jahr ohne Hosen: Überall auf der Welt von zu Hause aus Arbeiten” festgehalten.
Fazit
Genau aus denselben Gründen wie wir beim Gestalten von digitalen Produkten den Ansatz “Mobile-First” wählen, sollten wir auch bei der Strukturierung bzw. Umstrukturierung unseres Unternehmens oder Teams auf den Ansatz “Remote-First” setzen. Denn beim Konzipieren von digitalen Interfaces mit dem Ansatz Mobile First, sind wir gezwungen uns auf das Wichtigste zu konzentrieren, da Platz rar ist. Wenn Unternehmen alle nötigen Werkzeuge und Kommunikationsregeln so strukturieren, als gäbe es das Büro nicht, bin ich davon überzeugt dass das Arbeiten ausserhalb als auch innerhalb des Büros einfacher und effizienter und somit schlussendlich das ganze Unternehmen erfolgreicher wird.
Quellen:
- bfs.admin.ch
- produktive-schweiz.ch
- basecamp.com – Book REMOTE
- scottberkun.com – Book year without pants
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